Marius Jacob

*29.9.1879 Marseille (Frankreich) †28.8.1954 Reuilly (Frankreich) Gebiet: Frankreich, Spanien, Guyana

Matrose, anarchistischer Aufwiegler und Einbrecher. Versucht zeitlebens durch hunderte Einbrüche («Arbeiter der Nacht») die anarchistische Sache zu fördern. Verbringt 20 Jahre in der Strafkolonie Guyana (neun Jahre Einzelhaft, sieben Sondergerichtsprozesse, sechs Freisprüche, 17 Fluchtversuche), bis ihn nach dem 1. Weltkrieg eine Generalamnestie wieder nach Frankreich bringt. Schwer krank entscheidet er sich 75jährig für den Freitod.

J`ai cosse. Excusez.

Der 1879 geborene Alexandré-Marius Jacob leidet sehr unter seinem, dem Absinth verfallenen Vater. Dieser ist „nur“ Angestellter der Bäckerei seiner Ehefrau, seine gekränkte „Männerehre“ rächt er, indem er seine Frau regelmäßig verprügelt. Marius hält zu seiner Mutter und schenkt seinem Vater zeitlebens Verachtung für dessen Verhalten. Einer Klosterschule samt Priesterseminar entgeht Marius zu seiner großen Erleichterung knapp, schließlich liest er viel lieber Jules Verne als die Bibel und interessiert sich für den Marseiller Hafen. So heuert er bereits mit 11 ½ Jahren als Schiffsjunge an, kommt um die Welt und schickt Geld nach Hause.

Auf seinem dritten Schiff wird er Opfer sexueller Übergriffe seitens der älteren Matrosen und entscheidet sich in Sydney zur Flucht. Nachdem er sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, wird er auf ein vermeintliches Walfängerschiff aufgenommen, welches sich als Piratenschiff entpuppt. Da er sich bei der zweiten Kaperfahrt persönlich an dem Gemetzel beteiligen muss, entschließt er sich abermals zur Flucht. Acht Tage später wird das Piratenschiff von der Küstenwache dingfest gemacht und die komplette Besatzung kurzerhand erhängt. Ein englischer Frachter bringt Jacob nach Marseille zurück, wo er wegen Desertation angeklagt wird, den Richter aber von seiner Notlage überzeugen kann und freigesprochen wird. Er wird fortan zu einem vorbildlichen, abstinenten Matrosen bis 4 Jahre später, mit 17 Jahren, ein rätselhaftes Virus seine Matrosenlaufbahn beendet.

Stattdessen gewinnt er Zugang zu anarchistischen Kreisen und den klassischen anarchistischen Theoretikern, wobei er sich auch mit Max Stirner, dem Begründer des Individualanarchismus, vertraut macht und agitatorisch tätig wird. Der bekannte Anarchist Charles Malato, welcher zwar Bombenattentate ablehnt, aber dennoch für den Tag des großen Aufstandes ein Bombenbastellabor unterhält, leiht Marius ein „Rezeptbuch“. Ein als Anarchist getarnter Polizeispitzel schiebt ihm zur Aufbewahrung die Zutaten für eine ordentliche Bombe zu. Die Polizei findet sowohl die Zutaten als auch Malatos Handbuch und so wird Marius am 13.10.1897 zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Wieder in Freiheit findet er eine angewachsene anarchistische Bewegung vor, schmeißt Stinkbomben in Gottesdienste und beteiligt sich an Aktionen für den „aktiven Wahlboykott“. Er faltet ein stecknadelgroßes Phosphorstück in einen Wahlzettel und versenkt ihn in der Wahlurne, welche dadurch in Flammen aufgeht. Die Wohnung seiner Eltern wird regelmäßig durchsucht, kaum hat er eine Arbeit, taucht die Polizei beim Arbeitgeber auf und er verliert den Job wieder. Er verliebt sich in die Prostituierte Rose Roux, die seine Lebensgefährtin wird und zieht zu ihr, u.a. um sein Elternhaus vor Hausdurchsuchungen zu schützen. Ohne Erfolg. Marius erklärt darauf dieser Gesellschaft endgültig den Krieg und es folgen seine Lehrjahre als „Illegalist“.

Am 31.3.1899 beraubt er mit fünf als Polizisten getarnten Komplizen eine Marseiller Pfandleihe, setzt sich mit ihnen nach Spanien ab und unterstützt dort finanziell die von einer tobenden Repressionswelle betroffenen Genossen. Von nun an beginnt er seine Karriere als professioneller Einbrecher. In Spanien will er im Pilgerort Santiago de Compostela den aus 400 kg massivem Gold bestehenden „Heiligen Jakobus“ stehlen und einschmelzen, was an religiösen Vorbehalten örtlicher Sympathisanten scheitert. Er hört von seiner Verurteilung in Marseille zu fünf Jahren Gefängnis, entschließt sich dennoch zurückzukehren, überfällt auf dem Rückweg mit seinem Komplizen Frosatti ein Spielkasino in Monte Carlo, wobei dieser ihn um die Beute prellt und nach Italien flüchtet. Jacob verfolgt ihn dorthin. Wenig später ist Frosatti ermordet, ob Marius der Täter war, wird wohl für immer ein Geheimnis bleiben. In Toulon verhaftet, spielt er den Geisteskranken mit Erfolg und flieht unter beratender Beihilfe eines gleich gesinnten Pflegers.

Wieder in Freiheit, eröffnet er eine Eisenwarenhandlung und spezialisiert sich auf den Verkauf von Geldschränken und Tresoren, um sich über alle gängigen Modelle zu informieren. Nach seinen anfänglichen Fehlern geht er nach und nach zum wissenschaftlichen Einbruch über, welcher auf einer präzisen Logistik und zuverlässigen Leuten beruhen soll. Außerdem legt er sich ein umfangreiches Verkleidungssortiment zu. Das Hauptaugenmerk der Einbrüche liegt auf Provinzstädten, vor allem sind südfranzösische Villen von Interesse. Jeder Beteiligte soll 10% seines Beuteanteils an „die Bewegung“ abgeben. Marius baut Kontakte zu Börsenmaklern auf, um erbeutete Wertpapiere zu verkaufen, Edelsteine werden an eingeweihte Diamantenhändler in Amsterdam abgeführt. Vor Gericht werden ihm später 150 Einbrüche nachgewiesen, in Wahrheit dürften es jedoch weit mehr gewesen sein.

Im Herbst 1901 begehen die „Travailleur de la nuit“ (Arbeiter der Nacht) ihren wohl bekanntesten Coup als sie in Paris den „Geniestreich der rue Quincampoix“ durchführen. Im 4. Stock der Nummer 76 hat ein Juwelier seine Geschäftsräume. Man mietet die darüberliegende Wohnung im 5. Stock unter falschem Namen, bohrt ein kleines Loch in den Fußboden, steckt einen Regenschirm hindurch, öffnet diesen, damit bei der Vergrößerung des Loches der herunterfallende Schutt keinen Lärm macht, raubt Gegenstände im Wert von 330.000 Francs und verabschiedet sich freundlich beim Pförtner. Danach trennt sich die Gruppe aufgrund interner Streitereien über die Höhe des Privatanteils und der „Abfuhrsteuer“ an die anarchistische Bewegung.

Jacob eröffnet Antiquitätenläden, baut wieder ein Gesamtunternehmen von ca. 40 Leuten auf und raubt fleißig weiter – die Rückkehrer von der Strafinsel Guyana müssen versorgt werden. Eine Aktion in Abbeville verursacht unnötige Aufmerksamkeit und die Aktion muss abgebrochen werden. Am Bahnhof werden die Einbrecher von zwei Polizisten gestellt, welche niedergeschossen werden. Einer ist schwer verletzt, der andere tot. Nach einer Treibjagd ergibt sich Jacob widerstandslos. Zwei sich im Umfeld der Gruppe befindliche Frauen packen aus, eine davon wird daraufhin in ihrer Zelle vergiftet vorgefunden. Am 8.März 1905 herrscht Belagerungszustand in der nordfranzösischen Provinzstadt Amiens, die Staatsmacht steht mehreren tausend Menschen gegenüber um das Prozessgebäude abzuriegeln. Die „Bande von Abbeville“ steht wegen Polizistenmord und schwerem Diebstahl vor Gericht. Neben den 24 Angeklagten gibt es 158 geladene Zeugen. Aus dieser Verhandlung soll ein Schauprozess werden. Die Angeklagten verlesen ihre Kriegserklärungen gegen die bürgerliche Gesellschaft, Jacob betont redegewandt den Klassencharakter seiner Taten. Er wird mit acht weiteren Angeklagten vom Prozess ausgeschlossen und bekommt lebenslänglich auf der Strafkolonie Guyana, auch „Teufelsinsel“ genannt, und wird dort aufgrund seiner Hilfsbereitschaft und juristischen Kenntnisse zum „Anführer“ und Anwalt der Gefangenen. Die Bilanz seines 20-jährigen Aufenthalts: 9 Jahre Einzelhaft, 7 Sondergerichtsprozesse, 6 Freisprüche, 17 Fluchtversuche.

Er überlebt trotz enormer Unterernährung und der Ruhr. Freigelassen wird er nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden öffentlichen Kritik am System der Strafkolonien in Frankreich nach dem Ersten Weltkrieg, muss allerdings zunächst noch 2 Jahre Zuchthaus in Frankreich absitzen. Nach seiner Freilassung führt er ein Leben als fliegender Händler. 1936 will er die anarchistische Miliz im spanischen Bürgerkrieg mit Waffen versorgen, doch scheitern seine Bemühungen an fehlenden gleich gesinnten Kontaktpersonen. Während der Besetzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg wird er wegen unerlaubten Warenbesitzes zu einem Monat Gefängnis verurteilt, außerdem versteckt er verfolgte Résistancekämpfer. Im Rentenalter ist er vor allem im antimilitaristischen und individualistischen Flügel der anarchistischen Bewegung aktiv. Er schwört dem Illegalismus wegen der „Ungleichheit des Kampfes“ mit dem Kapitalismus als „Erziehungsmethode“ für die arbeitenden Massen ab.

Im Alter erkrankt er zunehmend und beschließt Selbstmord. Er hat ein letztes mal Sex mit der 30 Jahre jüngeren Frau eines Freundes, nachdem er vorher beide um Erlaubnis gefragt hat, gibt ein Bankett für die Kinder des Dorfes und vergiftet seinen ebenfalls altersschwachen Hund Negro und danach sich selbst am 28.8.1954 mit einer Überdosis Morphium.


Nachtrag aus Halfbrodt, Michael: Alexandre-Marius Jacob. Die Lebensgeschichte eines anarchistischen Diebes, Moers 1994

In seiner Verteidigungsrede vor Gericht liefert Jacob seine eigene Zusammenfassung der "illegalistischen" Theorien: "Die Gesellschaft gewährte mir nur drei Existenzmittel: die Arbeit, die Bettelei und den Diebstahl. Die Arbeit widert mich keineswegs an, sie gefällt mir sogar. Der Mensch kann die Arbeit gar nicht entbehren; seine Muskeln, sein Gehirn verfügen über eine Menge Energie, die verausgabt werden will. Was mich aber anekelte, war, Blut und Wasser zu schwitzen für ein Almosen an Lohn, Reichtümer zuschaffen, die man mir vorenthalten würde. Kurzum, es hat mich angewidert, mich der Prostitution der Arbeit auszusetzen. Bettelei ist Erniedrigung, die Verneinung jeglicher Würde. Jeder Mensch hat ein Anrecht auf das Bankett des Lebens. Um das Recht des Lebens bettelt man nicht. Man nimmt es sich. Der Diebstahl, das ist die Rücknahme, die Wiederaneignung der Besitztümer. Anstatt in einer Fabrik eingesperrt zu sein wie in einem Bagno, anstatt um das zu betteln, worauf man ein Recht hat, habe ich es vorgezogen, mich aufzulehnen und meine Feinde Schritt für Schritt zu bekämpfen, indem ich gegen die Reichen Krieg führe und ihren Besitz angreife"

Bereits 1886 begründet der Anarchist Clèment Duval (1844-1929), nachdem er die Villa eines Juweliers leert und versehentlich in Brand setzt, seine Taten mit dem Existenzrecht: "Jeder Mensch hat die Pflicht, dieses Recht in vollem Umfang in Anspruch zu nehmen. Wenn die Gesellschaft ihm das Nötigste, was er zum Leben braucht, vorenthält, ist er berechtigt, es sich zu nehmen, wo es im Überfluß vorhanden ist"


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